Androids, Dreaming – Erstes Kapitel

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Androids-Dreaming-Titel

Eine Geschichte

Letztens bin ich so die Straße runtergelaufen, durch die Unterführung unter der Bahnlinie, wo die Taubenkacke auf dem Pflaster so dick ist, dass man bei feuchtem Wetter darauf ausrutscht. Aber es war kein feuchtes Wetter, es war trocken und sonnig und der Liguster auf dem Spielplatz hinter der Unterführung wuchs und blühte und duftete, als wäre es seine letzte Chance.

Ich hielt an der Bude an, das sagt man hier so, ich meine eigentlich ein Kiosk, also so einen kleinen Verkaufsladen, wo es Weingummi und Bier und Dosenravioli gibt und immer die gleiche Verkäuferin hinter dem Fenster steht und man sich fragt, wann die überhaupt schläft.

Da kaufte ich mir ein Eis, und zwar ein Cornetto Haselnuss, und dann pellte ich das Papier ab und nahm die kleine runde Pappscheibe runter, die obendrauf liegt und an der immer ein bisschen was von dem Eis klebt. Die faltete ich ordentlich zusammen und warf sie in die rote Mülltonne mit dem Langnese-Schriftzug. Daneben stand ein Metallnapf mit Wasser und ein kleiner Hund trank daraus, er hatte kurzes weißes Fell mit großen schwarzen Flecken und ein Frauchen dabei, die schon bessere Tage gesehen hatte, oder vielleicht auch nicht. Jedenfalls zog sie an ihrer Zigarette und schaute nachdenklich in die Ferne, und ich roch den Zigarettenrauch und den Geruch eines Pullovers, der schon seit langer, langer Zeit nicht mehr gewaschen worden war.

Ich ging weiter die Straße runter und biss in mein Cornetto, oder eigentlich biss ich erst mal in eins der Schokoladenstücke, die oben drauf liegen. Ich weiß nämlich, wenn ich ins Eis beiße, dann tun mir die Schneidezähne weh und ich kriege Hirnfrost.

Jedenfalls kaute ich gerade das Schokostück mit den Haselnusssplittern, als ich von hinten schnelle Schritte hörte. Jemand rannte, wahrscheinlich zur Straßenbahnhaltestelle an der Kreuzung vor mir. Das nahm ich einfach mal an, Arbeitshypothese, jedenfalls, bis mich von hinten etwas in den Rücken traf und ich zu Boden ging. Mein Eis flog durch die Luft und landete kurz vor dem nächsten Hauseingang. Ich hatte meinen Sturz mit dem rechten Arm abgefangen, rutschte mit der Haut übers Pflaster. Zuerst dieser Moment, in dem es sich einmal kurz kalt anfühlte, dann höllisches Brennen.

Ein Blick über die Schulter: Was ich dort sah, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren.


Nein, war nur ein Witz. Ich erzähle keine Geschichte. Warum auch? Wir kennen doch alle Geschichten schon. Alles, was jemals passieren könnte, ist schon passiert.

Niemand wird jemals mehr irgendwo eine neue Farbe entdecken, die anders aussieht als alle anderen Farben, und zurückkehren, um davon zu erzählen.

Jeder hat schon mit jedem geschlafen. Mensch, Tier, Ding. Und sich hinterher Gedanken darüber gemacht, ob es Liebe war.

Alle bösen Könige wurden besiegt – und prompt durch neue ersetzt, jedes Mal.

Alle Helden sind immer wieder in die Unterwelt hinabgestiegen und haben das Licht mitgebracht, oder lustige Anekdoten über die Einheimischen, oder das beste Rezept für Bolognese. Können Sie alles im Netz nachlesen, Sie müssen die Bolognese nicht mal selber probieren.

Das Problem mit Geschichten ist ja: Wenn man sie selbst erlebt, kennt man den Ausgang erst hinterher. Wenn man mittendrin steckt, nagt die Ungewissheit an einem. Kriege ich den Zug noch? Studiere ich das richtige Fach? Wie lassen diese Schuhe hier mich in den Augen meiner Mitmenschen aussehen, und werde ich den Lauf der Geschichte irreversibel verändern, wenn ich mir noch schnell andere anziehe und zu spät zum Meeting komme?

Wird das Flugzeug sicher ankommen? Wird das Baby gesund zur Welt kommen? Auf welches Häuschen wird die Bombe niedergehen?

Die Krankenhäuser und Friedhöfe sind voll von Leuten, die dachten, sie müssten ihre eigenen Geschichten erleben.

Na gut, die Friedhöfe sind auch voll von Leuten, die einfach keine andere Wahl hatten, weil es zu ihren Lebzeiten noch kein Internet gab. Ärgerlich, aber man sucht es sich nicht aus.

Okay, sagen Sie, aber jetzt wollen Sie trotzdem die Geschichte weiterlesen? Weil ich jetzt schon damit angefangen habe – und aus irgendeinem Grund wollen Sie wissen, wie es weitergeht? Obwohl es komplett irrelevant für Ihr Leben ist?

Gut, das war jetzt ein Spoiler, unhöflich von mir. Aber für Sie eine gute Gelegenheit, nochmal drüber nachzudenken, ob Sie wirklich eine Geschichte lesen oder doch lieber was Schönes auf Insta posten wollen.

Sie wollen eine Geschichte? Haha, zu seltsam. Das sollten Sie mal mit Ihrer Therapeutin besprechen. Aber gut. Jetzt sind wir schon mal hier.


Okay, also der Blick über die Schulter. Tatsächlich ließ er nicht das Blut in meinen Adern gefrieren. Was für eine dämliche Redewendung, hoffentlich schneidet die Lektorin das raus.

Ich sah einfach nur ein Kind, das wegrannte. Schmutzigweiße Sneakers, dunkelblaue Jeans, Regenjacke mit einem pink-lilafarbenen Airbrush-Muster. Es rannte in die Richtung, aus der es vor unserer Kollision gekommen sein musste.

„Hey!“, rief ich ihm hinterher, aber da war es schon in die Unterführung eingebogen und aus meinem Blickfeld verschwunden.

Ich stand mühsam auf und untersuchte meinen Unterarm. Eine große Schürfwunde, die an einem Ende blutete. Vorsichtig pickte ich ein paar Steinchen aus der Wunde. Die Frau vor der Bude mit ihrer Zigarette und dem Hund schaute mir teilnahmslos zu.

Oder doch nicht: Jetzt hielt sie mir ein Päckchen Papiertaschentücher hin, aber ohne sich selbst vom Fleck zu bewegen.

Ich ging zu ihr hin und nahm die Taschentücher an. Vorsichtig tupfte ich das Blut von meinem Arm. Die Frau beobachtete mich – immer noch, ohne eine Miene zu verziehen.

Dann räusperte sie sich. Bloß, dass ich dann feststellte, dass sie sich gar nicht geräuspert, sondern etwas gesagt hatte. Denn jetzt wiederholte sie es:

„Gehört Ihnen das?“

Mit einer trägen Handbewegung zeigte sie mit ihrer Zigarette auf den Gehweg, wo ich kurz zuvor noch gelegen hatte.

Dort lag ein kleines Kästchen.

Ich schaute sie an, um zu antworten, aber sie blickte schon wieder in die Ferne, eine Ferne, die irgendwo hinter der Tafel mit den Langnese-Eissorten sein musste, die zwei Meter vor ihrer Nase hing.

Ich ging hin und hob das Kästchen auf.


Am einfachsten wäre es, wenn das Kästchen sich jetzt als Smartphone herausstellen würde, nicht wahr? Dann wäre die Geschichte hiermit zu Ende. Der Rest irrelevant, das Kind, die Frau, der Hund, die Zigarette, diese lästige lineare Erzählweise, bei der man immer warten muss, bis wieder was passiert.

Wäre es ein Smartphone, dann gäbe es auch nichts weiter zu erzählen, denn wie sollte man das Scrollen und Wischen und Gucken und Scrollen in eine Geschichte packen? Das ewige Kaugummikauen der Seele. Wenn es eine gibt.

Eine Geschichte über eine kaugummikauende Seele zu schreiben ist wie ein Andy-Warhol-Film, bei dem jemand acht Stunden lang beim Schlafen gefilmt wird: nur beim ersten Mal originell. Aber auch diese Geschichte hat bestimmt schon mal jemand geschrieben. Müssen Sie mal googeln.

Aber nein, das Kästchen ist kein Smartphone. Die Geschichte geht weiter.


Es war eine Zigarettenschachtel aus hellgelber Pappe, in einem Rest Zellophanhülle steckend. Aber von keiner Zigarettenmarke, die ich kannte. Stattdessen auf der Vorderseite ein realistisch gemalter Brombeerzweig, mit plumpen, blauvioletten Früchten, zarten, rosafarbenen Blüten und sattgrünen Blättern, dazwischen Dornen. Unter dem Zweig, in gut leserlicher Schreibschrift, dunkelgrau, das Wort „Rosebud“. Die Ecken der Schachtel waren schon etwas abgestoßen, aber die Pappe fühlte sich gut und solide und trocken an.

Ein schwacher metallischer Geruch ging von ihr aus, und dann glaube ich, ein Vibrieren zu spüren… sie schien in meiner Hand zu pochen.

Vorsichtig klappte ich den Deckel zurück.


Natürlich – Sie wissen es ja selber – hat es sich nicht so zugetragen. Also jedenfalls nicht in dieser Reihenfolge. Wenn wir die genaue Abfolge mal kurz vergessen, dann ist aber alles genau so passiert, wie ich es bis hierhin erzählt habe.

Nur eben vor langer Zeit. Damals, als wir noch Dinge erlebt haben und Erinnerungen daraus wurden, aus denen wir jetzt unsere Geschichten bauen.

Sehen Sie? Es ist so viel sicherer, nichts mehr zu erleben und nur noch von früher zu erzählen. Wenn man die Bausteine immer neu zusammensetzt, dauert es auch eine Weile, bis das Gegenüber kapiert, dass nichts Neues mehr kommt. Vielleicht ein ganzes Leben lang.

Wir schlafen, und wir träumen, und alles sind nur Erinnerungen an früher.

Als das Leben unmittelbar war – die erste Limonade, die in der Nase prickelt, der Geruch von gemähtem Gras am Samstagnachmittag, der erste Kuss, der nach Apfelbonbons schmeckt und nach fremder Haut riecht.

Aber auch: echter Schmerz, die Unverrückbarkeit der Dinge, ein im Urlaub verlorenes Stofftier, das niemals den Weg zurückfindet, das verpasste Geburtstagsfest, das sich niemals wiederholt. Der Tod eines Menschen und man wartet immer noch darauf, dass er um die Ecke kommt und nur kurz weg war, vielleicht im Supermarkt, zwanzig Jahre lang. Der Supermarkt hat längst zu und die Endgültigkeit nimmt einem dem Atem.

Wollen wir das wirklich zurück? In welche Richtung schlägt der Zeiger aus?

Besser schlafen, vielleicht auch träumen, und wir müssen keine Angst vor den Träumen haben, denn wenn sie böse oder seltsam sind, dann liefert das Netz uns sofort bessere. Garantiert bessere, denn 52.371 User haben diesen Traum vor dir geliket, und so viele Leute können einfach nicht irren.


Die Straßenbahn ratterte auf ihren Schienen vorbei und quietschte um die Kurve. Die Sonne wärmte meinen Rücken und aus einem der geöffneten Fenster des Hauses neben der Bude zog der Duft von gebratenen Zwiebeln und jemand rief etwas in einer Sprache, die ich nicht verstand.

Ich schaute in die kleine Schachtel und fand ein schlagendes Herz, und es war mein eigenes. 

Und das ist der einzige Teil der Geschichte, der nicht so passiert ist. Es war nur ein Traum, und ich wache auf, und die Schachtel ist weg. Und hier fängt die Geschichte an.


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